Von der Höhle zur Hölle
Unmenschliche Schwerstarbeit in den tiefen des Jakobsberges
Jahrzehntelang war der Zugang in den Jakobsberg verschlossen und damit auch ein Teil der Geschichte von Porta Westfalica. 71 Jahre nach Kriegsende öffnete die Stadt nun zum zweiten Mal den ehemaligen KZ-Stollen für die Öffentlichkeit. Bis um das Jahr 1900 wurde der Stollen lediglich zum Sandsteinabbau genutzt. Ab 1944 sollte er zu einem Ort des Grauens werden.
Der Eingang zur Hölle: Dachs 1
„Sind alle Schubkarren so schwer wie diese? […] Die rohen Holzgriffe rutschten mir aus der Hand, ich fasse wieder zu, und los geht’s; aber das Rad sinkt in den Boden ein, ich schiebe weiter. An der Krümmung des Stollens sehe ich das Tageslicht; das ist der schwierigste Abschnitt, der Boden steigt an, am Ende des Stollens noch eine schlimme Steigung. Oben angekommen, wird die Karre umgekippt und entleert.¹ […] Meine Hände, meine Arme sind nur noch Seile, die meine Schultern mit den Griffen verbinden. Ich muss nur aufrecht bleiben, und die Beine müssen weiter gehen; zum Glück sind sie daran gewöhnt.“² – So beschreibt der ehemalige KZ-Häftling, Pierre Bleton, in seiner Autobiografie „Das Leben ist schön!“ die Erfahrungen Untertage, die er im ehemaligen Sandsteinstollen in Porta Westfalica während des zweiten Weltkriegs sammeln musste. Er befindet sich im unteren Stollen, dem Dachs 1, damals auch „Höhle 1“ genannt. Unter den Häftlingen hatte dieser Ort den Spitznamen „Hölle 1“, denn wer hier arbeiten musste, hatte es am schwersten.
Schwindelerregende Höhen
Gleich hinter einem torgroßem Eingangsbereich erstrecken sich die Wände des Stollens bis zu 30 Meter in Höhe. Der Stolleneingang ist im Vergleich dazu geradezu mickrig. Ein Blick nach oben – schwindelerregend. Überall Gestein, wohin man schaut. Mächtig und aus Fels geschlagen. Untertage soll es kalt sein. Ich trage meine dicke Winterjacke, einen Schutzhelm und festes Schuhwerk. Wer weiß, was einen noch erwartet. Auf der rechten Seite entdecke ich einen gemauerten Part, der sich bis unter die unerreichbar hohe Decke zieht. „Der ehemalige Transformatorenraum“, klärt Michael Althoff auf, der an diesem Morgen unsere Gruppe durch den Berg führen wird.
Schwerstarbeit und Prügel
„Noch eine Schubkarre auskippen; ich lasse sie ungeschickt auf die Seite fallen, und die Hälfte der Ladung fällt auf den Boden, […]. Ich fahre dennoch los, mit Mühe, und das Rad rutscht immer wieder in die bereits tief eingefahrenen Spuren. […]Mein Aufpasser ist mir gefolgt.“³ – Pierre erzählt, wie sich sein Aufpasser Rudi an der Biegung zur Be- und Endladestation aufbaut, um alle genau zu beobachten. Wer nicht spurt bekommt Schläge, mit Schaufel und Hacke. Viele Häftlinge starben unter den Misshandlungen und der miserablen Lebensmittelversorgung. Mit Schwung nimmt er die letzte Steigung, kippt die Karre aus und kehrt wieder um. Fritz kommt dazu, ein zweiter Aufpasser. Sie haben bemerkt, dass Pierres Karre nicht ganz voll war. Seine Unbeholfenheit ist der Anlass für Prügel. „Mein Rad sinkt tief in den Sand ein und bleibt stehen. Ich ziehe die Karre zurück und versuche freizukommen. Das Rad bleibt wieder stecken.Fritz geht auf mich los.[…]Das ist der Anlass für Prügel […]. Ich sehe die Schaufel, lade wieder auf, fahre wieder los. Es kommt mir vor, als vollführe ich schwindelerregende Übungen, aufgehängt an einem Seil über dem Abgrund. Meine Arme zittern, meine Beine zittern, und dennoch arbeite ich mit äußerster Geschwindigkeit weiter. […] Ich falle auf die Knie, stehe wieder auf. Jetzt ist es die Karre, die mich voranzieht.“⁴
6500 Quadratmeter für eine Ölraffinerie
Die Reise geht weiter durch den A-Stollen. Gemauerte Wände, ein Raum nach dem anderen. Jeder Ziegelstein erzählt eine Geschichte. Geschichten über Unmenschlichkeit, ein bis in den Tod führendes Arbeitspensum, Leid, Trauer, Hoffnungen. Die Räume, in denen wir uns befinden, sollten während des Krieges mit Öl befüllt werden. Jeder Raum war ein gemauerter Öltank. Nach den Luftangriffen der Alliierten im Mai und Juni 1944 auf die Ölindustrie beschloss das Naziregime die wichtigsten Kriegsproduktionen unter die Erde zu verlegen. Der ehemalige Sandsteinbruch am Fuße des Jakobsberges wurde von 1000 auf 6500 Quadratmeter erweitert und sollte als Schmierölraffinerie unter dem Tarnnamen „Dachs 1“ dienen. Eine Produktion von 5500 Tonnen Flugzeugöl jährlich war geplant. Der Ausbau musste schnell erfolgen, dem Regime fehlte das Öl für die Flugzeuge. „Die Häftlinge arbeiteten rund um die Uhr im Zwölfstundentakt“, beschreibt Michael Althoff die Arbeitsbedingungen. „Meist nur leicht bekleidet, mit einer Art Schlafanzug.“ Die Füße waren mit Stoff umwickelt. Festes Schuhwerk gab es nicht.
Kälte kriecht unter die Haut
Nach 55 Minuten Wanderung durch die unterirdischen Gänge des A-Stollens und seinen Öltanks befinden wir uns im B-Stollen auf dem Weg in den ehemaligen Destillationsbereich, der C-Stollen. Trotz dicker Jacke und warmer Kleidung spüre ich, wie meine Füße anfangen zu frieren. Die Kälte kriecht den Körper entlang, ganz langsam von unten nach oben. Endlich sind wir da, wobei ich lieber weitergehen würde, denn Stillstand bedeutet weitere Kälte. Der Destillationsbereich ist teilweise gemauert. Wasser rinnt die Wände hinunter, es ist feucht. Riecht moderig. Nach Kälte.
Nach knapp einer Stunde Untertage scheinen die Steinmassen einen langsam zu erdrücken. Der ganze Berg liegt über uns. Eine gruselige Vorstellung. Ich sehe meinen Atem. Es muss wirklich kalt sein. Kaum vorstellbar, dass hier Menschen mit nur Stofflappen als Kleidung und einer Mahlzeit aus Suppe und ein wenig Brot die Hälfte des Tages mit Schwerstarbeit zugebracht haben. „Meine Großmutter hat den Arbeitern immer Brote an den Wegesrand gelegt“, erzählt eine Teilnehmerin über die Erinnerungen an die Kriegszeit. Die Häftlinge seien aber immer geschlagen worden, wenn sie sich danach gebückt haben. Oder die SS-Leute hätten sie vorher zertreten.
Endlich vorbei. Endlich Pause.
„Ich habe mich auf das Stroh geworfen, ich fühle mich, als ob ich von Schlägen halbtot wäre. Die Verkrampfung meiner Muskeln zerfließt, mein ganzer Körper ist außer Kontrolle. Es ist angenehm, sich gehenzulassen; das Stroh ist ganz warm, und auf die Decke habe ich meinen gestreiften Mantel gelegt.⁵ […] Wir wollen schnell einschlafen, die Nächte sind kurz.“⁶- Pierre Bleton hat seine Schicht hinter sich gebracht. Er ist im Festsaal des Kaiserhofs untergebracht. Die ersten 300 Häftlinge, darunter auch Bleton, schliefen auf dem Boden. Später teilten sie sich mit zwei oder drei Mann ein schmales Bett. Im Herbst 1944 standen in dem 25 Meter langen und 15 Meter breiten Saal 700 Betten für 1400 Häftlinge, vierstöckig übereinander. Pierre Bleton hat eines der obersten Betten. Dort oben, in der vierten Etage, habe er seine Ruhe. Der Tag geht zu Ende, aber schon in ein paar Stunden fängt das Elend von Neuem an.
Quellenangabe:
¹ Pierre Bleton, „Das Leben ist schön!“, Seite 15
² Pierre Bleton, „Das Leben ist schön!“, Seite 18
³ Pierre Bleton, „Das Leben ist schön!“, Seite 17
⁴ Pierre Bleton, „Das Leben ist schön!“, Seite 18
⁵ Pierre Bleton, „Das Leben ist schön!“, Seite 18
⁶ Pierre Bleton, „Das Leben ist schön!“, Seite 19
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