Über Stock und Stein
Im Rollstuhl und blind durch die City – ein Selbstversuch
Viele stöhnen über die nicht enden wollende Baustelle in der Mindener Innenstadt – weil sie nicht wissen, warum der Umbau notwendig ist. Wer körperlich nicht eingeschränkt ist, laufen und sehen kann, wird es auch kaum verstehen können. Für behinderte Menschen kann ein Spaziergang durch die City jedoch unfreiwillig zum Abenteuer-Parcours werden. MiKu-Reporterin Sandra Eichhorn überzeugt sich von den Schwierigkeiten – im Selbsttest.
Ich will es versuchen. Der Weg ist steil, die Steine holprig – aber ich bilde mir ein, die Straße alleine hochrollen zu können. Die Räder meines Rollstuhls verlieren die Bodenhaftung, er kippt leicht zur Seite, dann stecke ich fest. Eins zu Null für die Opferstraße.
Doch zurück zum Anfang. Zusammen mit Eckhard Rüter, dem Vorsitzenden des Behindertenbeirats, dem Blinden Ulrich Lauch und Rollstuhlfahrer Dirk Arendmeyer treffe ich mich zunächst am ZOB. Sie wollen mich bei meinem Selbstversuch unterstützen. Die drei haben auch bei der Erstellung des Barriereatlasses mitgewirkt, der die Problemstellen für behinderte Menschen in der Innenstadt aufzeigen soll. Bis 2017 sollen die durch den Atlas initiierten Umbauarbeiten, die die Stadt barrierefrei machen sollen, abgeschlossen sein. Eher selten sieht man behinderte Menschen in der Stadt. Das heißt aber nicht, dass es sie nicht gibt.
„Wenn Minden barrierefrei ist, werden sich auch wieder mehr von ihnen in die Innenstadt trauen“, erklärt Rüter.
Im Rollstuhl geht schnell die Puste aus
Ich nehme im Rollstuhl Platz und will losfahren. Während mir schon nach kurzer Zeit die Puste ausgeht und meine Arme anfangen zu schmerzen, rollt Dirk Arendmeyer voraus. Die Passanten weichen uns nach und nach aus. Immer wieder muss ich gegenlenken, denn der Boden ist nicht eben und ich rolle immer wieder zur Seite rolle. Später werde ich allerdings feststellen, dass der ZOB noch zum weniger beschwerlichen Territorium gehört.
Der ZOB gehört nämlich zu den Bereichen der Innenstadt, die schon umgebaut wurden. Die Steigungen sind hier nicht höher als 6 Prozent, was für Rollstuhlfahrer gerade noch machbar ist und auch das Blindenleitsystem ist hier schon fertig. „Der ZOB ist aber noch eine Insel“, erklärt Eckhard Rüter. Drumherum muss noch umgebaut werden, der Blindenstreifen ist noch nicht mit dem Rest der Stadt verbunden.
Helfende Hände sind unabdingbar
Am Marktplatz angekommen beginnt Eckhard Rüter mich über das Kopfsteinpflaster zu schieben. Das ist nett – aber mich ärgert der Verlust meiner Selbstständigkeit. Ich kann das doch selbst. Als wir die Obermarktstraße erreichen, gebe ich den Gedanken jedoch schnell wieder auf. Auch Dirk Arendmeyer hat hier Schwierigkeiten.
Hier wird klar, dass helfende Hände manchmal unabdingbar sind. „Viele Rollstuhlfahrer sind nicht offen genug, um fremde Menschen um Hilfe zu bitten. Dann ist es gut, wenn die Hilfe einfach angeboten wird“, erklärt Arendmeyer.
Die Opferstraße – das No-Go der Barrierefreiheit
Wir erreichen das No-Go der Barrierefreiheit: Die Opferstraße. Ich will mich selbst davon überzeugen, dass man dort mit Rollstuhl nicht hochkommt – und scheitere kläglich. Selbst mit Hilfe hat das keinen Zweck.
Wer mit dem Rollstuhl von der unteren in die obere Altstadt will, kann das nur über Hagemeyer oder in einem großen Bogen über die Königstraße. Bald soll allerdings der Trockenhof umgebaut werden, um noch eine neue und kürzere Alternative zu bieten.
Erste Versuche mit dem Blindenstock
Jetzt will ich auch wissen, wie sich blinde Menschen in der Stadt zurechtfinden. Durch eine spezielle Brille erkenne ich nur noch grobe Umrisse und Farben. „Der Großteil der Blinden hat noch einen Rest an Sehvermögen, nur die wenigsten sehen gar nichts mehr“, erklärt mir Ulrich Lauch. Ich sehe zwar, wo Menschen sich bewegen, ich erkenne aber nicht, wie nah sie mir sind. Die anderen reden mit mir, aber ich kann nicht genau zuordnen, wo sie stehen. Immerhin kann ich den Blindenstreifen durch den starken Kontrast zur hellen Pflasterung erkennen. Langsam taste ich mich mit dem Blindenstock voran. Zwar weiß ich nicht genau, wo ich bin – aber immerhin muss ich nicht fürchten, geradewegs vor eine Wand zu laufen.
Keine Orientierung ohne Blindenstreifen
Doch wie kann man sich ohne den Streifen fortbewegen, der noch nicht überall verlegt ist? Ich will es probieren und biege in die Scharnpassage ab. Zumindest sagt man mir das, ich selbst könnte nicht genau sagen, wo ich bin. Mit dem Stock erfühle ich Wände, an denen ich mich dann entlang tasten kann. Fast laufe ich vor einen Aufsteller. Als ich um die Ecke will, laufe ich Gefahr, ein Geschäft zu betreten (oder vor die Tür zu laufen) anstatt den richtigen Weg zu finden.
„Mit mehr Erfahrung findet man sich auch besser zurecht“, erklärt Lauch. Er selbst orientiert sich an Gerüchen „Ah, das Fett von Potthoff“, stellt er fest. Auch Geräusche helfen ihm. Wenn er schnalzt, hört er das Echo der Passage und weiß, wo er ist. In der kalten Jahreszeit haben Blinde allerdings noch mit ganz anderen Problemen zu kämpfen:
„Im Herbst und im Winter bleiben viele Blinde einfach Zuhause. Durch das Laub und den Schnee können sie den richtig Weg mit ihrem Stock nicht mehr erfühlen“, sagt er.
Am Ende des Tages habe ich gelernt, wie wichtig die Erstellung des Barriereatlasses und der Umbau der Innenstadt sind. Ein Spaziergang durch die Stadt ist für Menschen ohne körperliche Einschränkungen kein Problem – für alle anderen jedoch eine große Herausforderung.