A wie Analphabet

A wie Analphabet

Wenn Erwachsene nicht lesen und schreiben können

An dem einen Tag wollte Markus „das Schreiben lieber zuhause in Ruhe lesen“, an dem anderen hatte er „dummerweise die Lesebrille vergessen.“ Sogar Sehnenscheidenentzündungen täuschte er vor. Verbergen und vertuschen konnte Markus. Lesen und schreiben konnte er nicht. Der Mindener war Analphabet.

Laut des Bundesverbandes für Alphabetisierung und Grundbildung gibt es 7,5 Millionen funktionale Analphabeten in Deutschland. 14,5 Prozent der erwerbsfähigen Bürger zwischen 18 und 64 Jahren können nicht richtig lesen und schreiben, obwohl sie eine Schule besucht haben. „Funktionale Analphabeten besitzen rudimentäre Kenntnisse im Lesen und Schreiben. Sie können einzelne Wörter verstehen, können längeren Textpassagen jedoch keinen Sinn entnehmen“, erklärt Helga Riemanns. Seit 35 Jahren ist die Dozentin zuständig für die Alphabetisierungskurse an der Volkshochschule (VHS) Minden. Die Gründe für Analphabetismus „im Erwachsenenalter können biografischer, sozialer oder familiärer Natur sein“, sagt sie. Dumm seien die Betroffenen auf keinen Fall. Meist scheitere die Alphabetisierung an einem negativen Lernumfeld. „Viele kommen aus bildungsfernen Familien und bleiben auf der Strecke, wenn sie den Erstleseschreibprozess bis zur dritten Klasse nicht erfolgreich abgeschlossen haben. Das Schulsystem ist nicht darauf ausgelegt solche Mängel in späteren Klassenstufen zu beheben.“ Die Hürde, als Erwachsener einen Alphabetisierungskurs zu besuchen, werde dann immer größer. „Hinter den meisten liegt eine Karriere von Misserfolgen. Sie schämen sich und fühlen sich minderwertig. Sie verheimlichen ihre Lese- und Schreibschwäche und hoffen, dass sie nicht auffliegen“, sagt Riemanns.

Markus erzählt aus seiner Kindheit, von seinen drei Geschwistern und der alleinerziehenden Mutter. „Bücher gab es bei uns zuhause nicht, jedenfalls kann ich mich an keine erinnern.“ Mit 17 schafft er seinen Hauptschulabschluss – trotz Lese- und Schreibschwäche hat er sich „irgendwie durchgemogelt.“ Sollte er vorlesen, stammelte er vor sich hin. Irgendwann nahm der Lehrer ihn nicht mehr dran. „Hausaufgaben habe ich abgeschrieben. Schlechte Noten in Arbeiten konnte ich ausgleichen, weil ich mich im Unterricht oft gemeldet habe. Die Lehrer hatten dann Mitleid und ich habe eine Vier auf dem Zeugnis bekommen und wurde versetzt.“

Laut einer Studie der Universität Hamburg sind mehr als die Hälfte der funktionalen Analphabeten erwerbstätig – trotz mangelnder Schulbildung. Häufig jobben sie als Bauarbeiter, Reinigungskräfte oder Hilfsarbeiter. In Berufen, in denen es kaum eine Rolle spielt und es niemandem auffällt, ob jemand lesen oder schreiben kann. Analphabeten, das weiß Helga Riemann aus Erfahrung, verbergen geschickt ihre Makel, optimieren ihr Versteckspiel mit der Zeit. Die Dozentin erinnert sich an einen LKW-Fahrer, der sich Straßenschilder fotografisch eingeprägt hatte und die Auf- und Ausfahrten auf seinen Touren vorher mit seiner Ehefrau paukte. Oder an einen Betriebsrat, der den „ganzen lästigen Papierkram“ auf seine Sekretärin abwälzte, ihr Mails und Briefe diktierte.

Einen Schreib- und Lesekurs zu besuchen – die Entscheidung erfordert Mut, wie Riemanns sagt. Denn bis sich ein Analphabet dazu entscheidet, etwas an seiner Situation zu verändern, vergeht viel Zeit. Manche würden wochen- oder gar monatelang im Dunstkreis der VHS umherschwirren, bis sie sich trauten einen Fuß in die Kurse zu setzen. „Es sind meist Bruchsituationen und einschneidende Erlebnisse, die die Betroffenen wachrütteln“, erklärt die Dozentin. Die meisten Analphabeten verstecken ihr Handicap nicht vor allen, vertrauen es wenigen Mitwissern an. Häufig geben sie den Betroffenen den Anstoß, im zweiten Anlauf lesen und schreiben zu lernen. Auch Umschulungen und steigende Anforderungen im Beruf können einen Aha-Effekt auslösen. „In der Arbeitswelt wird immer mehr Schriftlichkeit verlangt. Auch in vermeintlich einfacheren Jobs nimmt die Dokumentationspflicht zu und die Mitarbeiter sollen sich aktiver an den Arbeitsabläufen beteiligen.“ Um ihren Job nicht zu verlieren, suchen die Analphabeten Schreib- und Lesekurse auf. Eine andere Schülerin von Helga Riemanns wiederum stand kurz vor der Scheidung von ihrem Ehemann. Um die Scheidungsformulare verstehen zu können und aus Angst von ihrem Mann übervorteilt zu werden, ging sie zur VHS.

Markus‘ Schlüsselerlebnis war die Einschulung seines Sohnes. Ihm wurde bewusst, bald kann sein Sohn lesen und schreiben. Das war vor sieben Jahren. Vor sieben Jahren klopfte Markus an den Raum für Alphabetisierungskurse an der VHS. Inzwischen macht er eine Weiterbildung zum Techniker, neben dem Beruf. Kommt er abends nach Hause, geht er mit seinem Sohn die Hausaufgaben durch.